Einst betrat ich in den Semesterferien eines heißen Sommers ein Studentencafé der Freien Universität Berlin. Dort erblickte ich auf einem der Tische eine Kerze, welche sich durch die Sonneneinstrahlung mehr als ein wenig gekrümmt hatte. „So geht’s ja nun nicht!“, dachte ich bei mir, und unternahm den Versuch, sie gerade zu biegen. Es machte „knack“, und die Kerze war entzwei. –
Archiv für den Monat Oktober 2018
Der Kulturschock der Antike – das semiotische Dreieck
Um die erkenntnistheoretischen, sprachphilosophischen Reflexionen zu vertiefen, ist es gar nicht vonnöten, neueste und als modern verkaufte wissenschaftliche Erkenntnisse zu konsultieren. Ein Blick in antike und mittelalterliche Texte zu dem Thema genügt:
Angefangen mit der Schrift „peri hermeneias“ (Lehre vom Satz) von Aristoteles (384-322 v. Chr.) über Francis Bacon (1561-1626) und Edmund Husserl (1859-1938) bis zu einem Grundkurs C der Linguistik über Wortsemantik (Wintersemester 1994/95) an der freien Universität Berlin zieht sich der rote Faden der Erkenntnis, dass ein sprachlicher Ausdruck beziehungsweise ein Wort eben nicht in erster Linie einen Referenten, eine Sache, die Natur oder die Welt bezeichnet, sondern ein geistiges Konzept, einen Begriff oder eine Idee im Kopfe eines Kommunizierenden.
Das Schockierende – aber in Platons Philosophie die zentrale Entdeckung der Begriffe – daran war in der Antike, dass eben keine Eins-zu-eins-Relation zwischen einem Wort und einer Sache beziehungsweise einem Referenten besteht, was den Terminus einer „Bedeutung“ erheblich komplexer macht, als gemeinhin angenommen.
Aus diesem Wissen entwickelten Charles Kay Ogden und Ivor Armstrong Richards (The Meaning of Meaning,1923) eine Dreiecksfigur:
Diese auch als semiotisches Dreieck bekannt gewordene Figur ist immer wieder hilfreich und orientierend bei der Lektüre sprachphilosophischer Texte zu dem Thema einer „Bedeutung“.
Um die jeweiligen Entitäten (existierende Dinge oder Größen im Geist) an den Eckpunkten des Dreiecks (A, B und C) zu bezeichnen, haben verschiedenste Autoren aus verschiedenen Epochen immer andere Begriffe benutzt. Hier ein kleiner Überblick:
sprachlicher Ausdruck (A) Gedanke (B) Gegenstand /Sache (C)
vox, conceptus, res (Aristoteles)
[Stimme, Konzept / Begriff, Sache / Gegenstand]
sprl. Äußerungen, seelische Widerfahrnisse, die Dinge (Aristoteles; übersetzt)
sprl. Ausdruck, Erkenntnisbild, Sache (F. Bacon)
sprl. Ausdruck, Konzept, die Dinge (Giattini, Giovanni Battista SJ. Logica)
Ausdruck, Sinn / Bedeutung, Gegenständlichkeit (E. Husserl)
Symbol, Gedanke, Referent (C. K. Ogden und I. A. Richards)
symbol, thought or reference, referent (Ogden und Richards im englischen Original)
sprl. Ausdruck, geistiger Begriff, die Dinge (Dr. Meier-Oeser; Dozent des Hauptseminars)
sprl. Form, Begriff, Sache (Lieb)
word, idea, — (John Locke)
Ein Beispiel: Jemand spricht das Wort „Tisch“ aus, oder schreibt es auf einen Zettel. Dies wäre dann Eckpunkt A, der sprachliche Audruck, das Zeichen oder Symbol, oder the word. Dann geschieht Folgendes: Diese Wort „Tisch“, gesprochen oder geschrieben, löst im Hörer oder Leser etwas aus. Nämlich ein geistiges Konzept, einen Begriff. Was ist ein „Tisch“? Ein Tisch kann drei, vier, fünf und mehr Beine haben, und dient dazu, vor einem oder mehreren Menschen etwas abzulegen oder abzustellen: Ein Buch, einen Monitor, oder eine Speise. Dies ist dann Eckpunkt B des semiotischen Dreiecks, den man statt „Begriff“ auch „Vorstellung“ nennen kann, wobei das nichts mit Theater zu tun hat. In der sprachwissenschaftlichen Lehre von Bedeutungen (Semantik) wird noch unterschieden zwischen Prototypen- und Merkmalssemantik: Was ist der Prototyp eines Tisches, welche Art von Gegenständen werden schnell und selbstverständlich als „typisch Tisch“ erkannt? Oder andererseits: Welche Merkmale muss ein Gegenstand aufweisen, damit er als „Tisch“ bezeichnet werden kann?
Noch eine umgedrehte Clementinenkiste aus dünnem Holz, welche ein auf dem Boden kauernder Mönch vor sich aufgebaut hat, um darauf ein Buch, ein Getränk und einen Aschenbecher abzustellen, ist demnach ein „Tisch“.
Damit sind wir schon bei Eckpunkt C des semiotischen Dreiecks: Hier sind die Gegenstände der „Welt“, Dinge, Sachen oder Realitäten gemeint, welche durch ein Wort (Eckpunkt A) und einen Begriff (Eckpunkt B) gemeinsam „bezeichnet“ (R4 = Relation 4; der lange Pfeil in obiger Grafik) werden.
Nicht jeder spricht Chinesisch, doch jeder ist vom Fach, der Sprache benutzt.
Ob nun in den Köpfen der Menschen das Gleiche stattfindet, sie bei einem sprachlichen Ausdruck dasselbe denken, den gleichen Begriff „meinen“, muss offen bleiben.
Das ist schon alles Wissenswerte, was zu friedfertiger und toleranter Kommunikation beitragen kann.
Anmerkung:
Jemand sagt beispielsweise »Tisch«, und meint und versteht darunter etwas Bestimmtes. Sein Gegenüber hört das Wort, versteht darunter jedoch etwas (völlig) Anderes. Diese mögliche Differenz kann man wissen und berücksichtigen.
Sprache, Denken, Logik und Wissenschaft
Wem es um Erkenntnis und Wahrheit geht, der zieht – in unserer westlichen Welt – gewohnheitsmäßig Mathematik, Logik sowie die Wissenschaften zu Rate. Dies scheint legitim und allgemein anerkannt, und dennoch bergen Erkenntnisse derartiger Provenienz (Herkunft) einen unerhörten Pferdefuß: Es ist die fatale Gläubigkeit, mit derartigen Werkzeugen oder Instrumenten wie Mathematik, Logik und Empirie die Welt und die Menschen ein für alle Mal erklären und damit auch beherrschen zu können. Privatsphäre, oder der Begriff einer »black box«, welche einst in soziologischen und psychologischen Theorien seinen festen Platz innehatten, scheint ausgemerzt, veraltet und vergessen. –
Schon Albert Camus sprach in seinem Buch „Der Mythos von Sisyphos“ (1942) von einer „blutigen Mathematik, die über uns herrscht“. Doch erscheinen seine diesbezüglichen Reflexionen und Einsichten aus heutiger Sicht ein wenig dünn und gehaltlos. Er hatte wohl andere Sorgen und Gedanken… –
Th. W. Adorno, der die Schriften Camus‘ mit Sicherheit kannte, drückt seine Aversion gegen Naturwissenschaft und Logik folgendermaßen aus:
„Dialektische Vernunft folgte dem Impuls, den Naturzusammenhang und seine Verblendung, die im subjektiven Zwang der logischen Regeln sich fortsetzt, zu transzendieren [überschreiten; C.F.], ohne ihre Herrschaft ihm aufzudrängen: ohne Opfer und Rache.“ [1]
Selbst wenn Adorno hier einen seiner polemisierenden Lieblings-Kampfbegriffe verwendet, nämlich den einer „Verblendung“, sollte dem aufmerksamen Leser dessen pazifistische Ethik nicht entgehen: Auch dialektische Vernunft, welche Adorno als Alternative zu traditionellen Denkweisen anbietet, will gar nicht herrschen, sondern koexistierend und gleichberechtigt wahrgenommen sein:
„ohne Opfer und Rache.“
Andererseits und weiter wettert Adorno in seinem ihm eigenen, scharf analysierenden, nahezu zynisch anmutenden Sprach- und Denkstil:
„Die formale Logik war die große Schule der Vereinheitlichung. Sie bot den Aufklärern das Schema der Berechenbarkeit der Welt.“ [2]
Da soll man mal ruhig bleiben, insbesonderer in unserer westlichen, wissenschaftsgläubigen Welt. Schon Sigmund Freud sprach mit Blick auf das Gewicht von Logik und Wissenschaft im Okzident vom „Gott Logos“, um die religionsanaloge Affinität zu gewissen Denkgewohnheiten herauszustellen. Zu einer Religion gehören unter anderem Rituale, und damit zurück zu Max Horkheimer und Th. W. Adorno:
„Die mathematische Verfahrensweise wurde gleichsam zum Ritual des Gedankens.“ [3]
Zu diesen polemisierend-reflektierenden Gedanken gesellt sich die Erkenntnis des sprachlichen Relativitätsprinzips: Diese als „linguistic turn“ in die Wissenschaftsgeschichte eingegangene Einsicht mahnt normalerweise einen jeden Wissenschaftler und Philosophen zu Bescheidenheit. Denn die Sprache und die Begriffe, mit deren Hilfe er zu seinen Wahrheiten gelangt, hat er ja selber nicht erfunden, und er scheint sich oftmals nicht gewahr, dass er in ebendiesem Käfig fleißig seine Runden dreht. –
„Die Kategorien und Typen, die wir aus der phänomenalen Welt herausheben, finden wir nicht einfach in ihr; ganz im Gegenteil präsentiert sich die Welt in einem kaleidoskopartigen Strom von Eindrücken, der durch unseren Geist organisiert werden muß – das aber heißt weitgehend: von dem linguisitischen System in unserem Geist.“ [4]
Dies bedeutet – kurz und knapp und mit Kant gesagt: Hier ist die Natur oder die „Welt“, welche die Menschen dort eben nur erkennen können mittels Sprache und Begriffen, die die „Welt“ zurechtschneidet nach unserem Geist und dessen Sprache:
„Diese Tatsache ist für die moderne Naturwissenschaft von großer Bedeutung. Sie besagt, daß kein Individuum Freiheit hat, die Natur mit völliger Unparteilichkeit zu beschreiben, sondern eben, während es sich am freiesten glaubt, auf bestimmte Interpretationsweisen beschränkt ist.“ [5]
Dies führt natürlich und unweigerlich in Abhängigkeiten, von denen die des Geistes von der jeweiligen Sprache „nur“ eine ist, jedoch eine fundamentale, deren Reflexion Freiheiten und neue Perspektiven eröffnen kann und sollte.
„[…] wird die Tatsache, daß Sprachen die Natur in vielen verschiedenen Weisen aufgliedern, unabweisbar. Die Relativität aller begrifflichen Systeme, das unsere eingeschlossen, und ihre Abhängigkeit von der Sprache werden offenbar.“ [6]
Wem diese Überlegungen zu theoretisch erscheinen, der möge einmal seinen Blick werfen auf die unterschiedlichen Bezeichnungen von beispielsweise Reis: Wieviele existieren in der deutschen Sprache, wieviele bei den Chinesen? – Wieviele unterschiedliche Arten von Schnee kennt ein Deutscher, der sich – bestenfalls – einen Skiurlaub in den Alpen leisten kann? Ein Eskimo würde ihn belächeln: „Du kennst also vier oder fünf verschiedene Sorten Schnee? Dann hast Du etwas von unserer wunderbaren Welt nicht verstanden, und bist meines Mitleids würdig und gewiss.“
„Wenn Erkenntnis sprachlich verfaßt ist, so das Argument, läßt sie sich nicht losgelöst von Sprache untersuchen. In diesem Sinne ist es zu verstehen, daß Sprachphilosophie zur grundlegenden Disziplin der Philosophie geworden ist: Der Erkenntnisanspruch der Philosophie wird durch die Analyse der Sprache der Philosophie geprüft und kritisiert. Und insoweit die Philosophie sich mit den Erkenntnisansprüchen von Wissenschaft, Literatur, Kunst, Religion usw. auseinandersetzt, hat sie die Sprachphilosophie als Grundlagendisziplin auch in die zugeordneten theoretischen Disziplinen wie Wissenschaftstheorie, Literaturtheorie, Kunsttheorie, Theologie usw. hineingetragen. Diese Entwicklung wird häufig als sprachphilosophische Wende („linguistic turn“) der Philosophie beschrieben.“ [7]
Dem ist nichts hinzuzufügen. Nur, dass man das – bei Interesse – längst hätte wissen können. –
Nun werde ich schweigen.
Quellen
[1] Th. W. Adorno: Negative Dialektitk, S. 145.
[2] Horkheimer/Adorno: Dialektik der Aufklärung, S. 13
[3] Horkheimer/Adorno: Dialektik der Aufklärung, S. 31f
[4] Benjamin Lee Whorf: Sprache, Denken, Wirklichkeit, S. 12.
[5] Ebd., S. 12.
[6] Ebd., S. 13
[7] Gottfried Gabriel: Grundprobleme der Erkenntnistheorie, S. 13
Literatur
Adorno, Th. W.. Negative Dialektik. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main: 1966, 1967, 1970, 1973.
Camus, Albert. Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg 1959.
Gabriel, Gottfried. Grundprobleme der Erkenntnistheorie. Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn: 1993.
Whorf, Benjamin Lee. Sprache – Denken – Wirklichkeit. Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg: 1963.