Einsamkeit

Bemerkungen zur Einsamkeit

Schon der Skeptiker Odo Marquard stellte Überlegungen an zum Thema „Einsamkeit“. Dabei kam er – unter Anderem – zu der Einsicht, dass es nicht die Einsamkeit ist, welche die Menschen heute quält, sondern der Verlust der Einsamkeitsfähigkeit: Polemisierend spricht er von „symptomatischen Gegengeselligkeiten“:

„[…] kein Heil Außerhalb der Gruppe. […] [sie; C.F.] fliehen vor den Einsamkeiten […] suchthaft in Gruppen: in die Fahrgemeinschaft, die Wohngemeinschaft, die Denk- und Diskutiergemeinschaft, die Arbeitsgemeinschaft, in die Gruppe um der Gruppe – also der Nicht-Einsamkeit – willen.“ [1]

Doch beginnen wir mit den Eingangsworten der Marquard’schen Reflexionen zum Thema Einsamkeit:

„‚Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei‘: das steht in der Bibel, Genisis 2.18, und es ist Gott selber, der das dort sagt: Alleinsein und Einsamkeit haben miteinander zu tun: ‚wer sich der Einsamkeit ergibt, ach! der ist bald allein‘, singt der Harfner in Goethes Wilhelm Meister; und wer allein ist, wird häufig einsam sein, vielleicht unvermeidlicherweise: ‚Leben ist Einsamsein. Kein Mensch kennt den andern, jeder ist allein‘: das schrieb Hermann Hesse.“ [2]

Bald schon – ich wiederhole es – kommt Odo Marquard in seinem Vortrag vom 12. Januar 1983 im Sender Freies Berlin zu der Kernthese seines Plädoyers, dass eben nicht Einsamkeit die Malaise, das Plagende für die Menschen unserer Zeit sei, sondern der Verlust der Einsamkeitsfähigkeit. –

Nicht ohne Redundanz (so nennt die Textlinguistik eine wiederholte Anführung eines Arguments oder eine These, eines Gedankens – repetitio est mater studiosum!) beschreibt er den Einsamkeitsbedarf beispielsweise eines Wissenschaftlers oder Philosophen:

„Wissenschaft ist: alles denken wollen. Man muß ohne Rücksicht auf Folgen denken dürfen, sonst kann man nicht alles denken. Dafür braucht es einen Ort, an dem die Denkfolgen gut entsorgt sind. Der Wissenschaftler muß sozusagen Sandsäcke zwischen sich und der übrigen Welt haben: für den Fall, daß sein Denken explodiert, damit kein anderer zu Schaden kommt.“ [3]

Dies scheint nun ein Spezialfall, eben der eines Wissenschaftlers oder Philosophen. Doch auch in Normalfällen des homo sapiens sapiens erscheint besagte Einsamkeitskompetenz kommunikativ hilfreich und heilsam:

„Von dieser Einsamkeitskompetenz lebt auch unsere Kommunikationskompetenz. Wer – einsamkeitsunfähig – mit all seinen Lebensfragen alle erreichbaren Mitmenschen dauernd behelligt, kommuniziert nicht, sondern sondern wird als krankhafter Fürsorgefall unerträglich.“ [4]

Ein kurzer Blick auf Paul Tillichs „Mut zum Sein“ ermahnt uns, unsere Einsamkeit, wenn auch ’nur‘ empfunden oder gefühlt, nicht allzu tragisch zu nehmen:

„Selbst die Einsamkeit ist nicht absolut, weil das Individuum die Inhalte des Universums in sich trägt.“ [5]

Will sagen, dass selbst der Einsame einst seine Sprache gelernt hat, ja vielleicht Lesen und Schreiben, und Bäume, Flüsse und das Meer, Sonne, Mond und Sterne sehen und genießen kann. Er spricht nur nicht darüber, doch sind sie trotzdem da.

Andererseits mag es ja geschehen, dass uns nach einem halben, einem, oder gar erst nach einem Jahrzehnt ein Mensch begegnet, welcher bestimmte Gedanken, Gefühle, oder Ästhetizismen mit uns teilt. Oder dass wir uns durch einen längst vergessenen Schriftsteller oder Künstler in ebendiesen Sphären verstanden und bestätigt fühlen. –

Zurück zu Odo Marquard: Humor, Bildung und Religion – dies ist seiner Auffassung nach das Handwerkszeug, aus dem – jeder für sich, Gott für uns alle – eine Einsamkeitsfähigkeit geschmiedet sein kann: Er spricht von Humor als einer bekömmlichen Dinstanz zu sich selber, also auch einer Distanz zur eigenen Einsamkeit und damit einer Vermeidung von Übererwartungen:

„Wer stets nur mit gelingender Superkommunikation zufrieden ist, verurteilt sich selber zur Einsamkeit; wer sogar vom Standbild auf dem nächsten Platz erwartet, daß es ihm um den Hals fällt, und sich einsam fühlt, wenn es das – wie bei Standbildern üblich – nicht tut, gehört zu den Genies der Verzweiflungserzeugung.“ [6]

Kurz, wer mit seinen Pflanzen spricht, und sich wundert, dass diese – erst einmal und wie üblich – nicht antworten, oder die Sonne am Morgen begrüßt mit den Worten: „Na, ,wie geht es Dir?“, und sie eben wundersamerweise nicht antwortet: „Blendend!“, dem mangelt es offensichtlich an Humor, und damit an Einsamkeitsfähigkeit.

Bildung – und über Bedeutungen und Auslegungen des Begriffs wird noch zu sprechen sein – gehört nach Marquard weiterhin zu den Einsamkeitsfähigkeit fördernden Kompetenzen:

„[…]: keine Alles- und Besserwisserei, sondern die Ausdehnung des Aktionsradius der Merk- und Genußfähigkeit dadurch, daß man nicht auf unmittelbare Präsenzen angewiesen bleibt; […]“ [7]

Merken und genießen kann man beispielsweise Bücher, Bilder, Tonfolgen, und so die Lebenkunst erlernen, auch allein nicht allein zu sein. –

Kommen wir zum dritten Werkzeug, welches Marquard zur Einsamkeitsfähigkeit empfiehlt: Religion. Es mag schon angehen, dass es Menschen gibt, welche vermeinen, nicht zu glauben, doch wissen sie, dass sie nicht glauben, oder glauben sie es nur? – Glaube: Das muss nicht immer die Überzeugung sein, dass ein überirdisches Wesen existiert, sei es nun Gott, Allah oder Jahwe genannt. Es genügt schon, beispielsweise an das Gute im Menschen, den gesunden Menschenverstand, die Gerechtigkeit, die Gesetze, die Lebendigkeit und Vitalität der Natur, oder ihre Kraft – und das betrifft unter anderem auch die Menschen – zu glauben, um überhaupt zu glauben. Das hat dann nicht nur erst einmal, sondern grundsätzlich und absolut nichts mit Konfessionsgebundenheit oder Autoritätshörigkeit zu tun. –

Zurück zu Odo Marquard, der immerhin Philosophie, Germanistik, evangelische Theologie sowie katholische Fundamentaltheologie studierte. Will sagen: Der gute Mann kannte sich schon ein wenig aus, und wusste, wovon und warum er von etwas sprach. Da kann man nur sagen: „Alle Achtung; vielleicht kann ich von dem noch etwas lernen.“ – Vielleicht auch nur, dass Philosophie treiben und dicke Bretter bohren auch lustig sein und Spaß machen kann: Eventuell schimmert ja durch das Loch im dicken Brett ein kleiner Sonnenstrahl, der uns erfreut und Kraft gibt.

„Gott ist – für den Religiösen – der, der noch da ist, wenn niemand mehr da ist. Der Nichtreligiöse glaubt, daß das nicht ausreicht: kommunikativ scheint ihm der profane Spatz in der Hand besser als die Taube auf dem Dach auch dann, wenn diese Taube den Heiligen Geist symbolisiert. Aber Menschen – sterblichkeitsbedingt einsame Lebewesen – sind seinsmäßig nicht so gestellt, daß sie es sich leisten könnten, auf solchen Trost leichtfertig zu verzichten: denn zweifellos gibt es Einsamkeitssituationen, in denen die Taube auf dem Dach – sozusagen – der einzige Spatz ist, den man noch in der Hand hat.“ [8]

So viel von dem, was Odo Marquard in seinem Vortrag vom 12. Januar 1983 im Sender Freies Berlin zum Thema Einsamkeit gesagt hat. – Einen kleinen Schritt weiter geht der Religionsphilosoph Klaus Heinrich mit seinem Einwand

„[…] mit dem ‚Es ist ja alles gesagt‘ ist alles eben erst nur gesagt […]“ [9]

Damit ist gemeint, dass Worte – ob nun schön oder unschön – eben nur Worte sind und bleiben, denen Taten zu folgen hätten, seien diese physischer oder psychischer Natur.

Was ist zu tun? –

Leben und Schweigen.

 

[1] Marquard, S. 115

[2] Marquard, S. 110

[3] Marquard, S. 118

[4] Marquard, S. 120

[5] Tillich, S. 94

[6] Marquard, S. 121

[7] Marquard, S. 121

[8] Marquard, S. 121f

[9] Heinrich, S. 28

 

Weiterführende Informationen / Literaturhinweise

Heinrich, Klaus. anfangen mit freud. Stroemfeld / Roter Stern. Basel / Frankfurt am Main 1997.

Marquard, Odo. Skepsis und Zustimmung. Darin: Plädoyer für die Einsamkeitsfähigkeit. Reclam 9334, Stuttgart 1994.

Tillich, Paul. Der Mut zum Sein. Walter De Gruyter, Berlin, New York 1991.

 

Berlin, im Juli 2018

Der Mut zum Sein (Teil 4): Das Unbehagen in der Kultur

In diesem vierten und letzten Teil soll es noch einmal um den Kerntext Sigmund Freuds gehen, dem »Unbehagen in der Kultur«, welcher Anlass bot für das gleichbenannte Seminar am religionswissenschaftlichen Institut der Freien Universität Berlin im Wintersemester 1997/98. –

Hier sei die Argumentation Freuds noch einmal kurz nachgezeichnet. Er beginnt mit einer grundsätzlichen Überlegung:

„Das Leben, wie es uns auferlegt ist, ist zu schwer für uns, es bringt uns zuviel Schmerzen, Enttäuschungen, unlösbare Aufgaben. Um es zu ertragen, können wir Linderungsmittel nicht entbehren.“ [1]

Der Kürze und Einfachheit halber seien die von Freud beobachteten Linderungsmittel hier aufgelistet:

  1. Gewollte Vereinsamung
  2. Unterwerfung der Natur
  3. Intoxikation
  4. Ertötung der Triebe (orientalische Lebensweisheit; Buddhismus)
  5. Libidoverschiebungen (Sublimation)

Doch das hatten wir schon be- und verhandelt.

Es geht um Kasteiung und Beherrschung, sei es der Natur, anderen Menschen, oder der je eigenen (Trieb-) Natur. Dies scheint der Preis, das Opfer, das Menschen aufzubringen haben, wollen sie in den – dadurch fragwürdig werdenden – Genuss einer Gesellschaft oder Kultur kommen. –

Ausgangspunkt dieser Entwicklung war kein Geringerer als der Philosoph René Descartes, der Wegbereiter der Aufklärung, welcher die Trennung von Körper und Geist postulierte, wobei eben der Geist oder der Verstand über Körper und Natur herrschen sollte. Für die Naturwissenschaften ein enormer Gewinn, wenn nicht gar Freifahrtschein, für die Humanwissenschaften desaströs. Denn bei einer Herrschaft des Verstandes über die Natur kommt es einerseits zu Verdrängungen, andererseits zu Berechnungen und Berechenbarkeiten auch noch in Humanwissenschaften wie Psychologie und Soziologie. Das eben ist der Preis, den eine aufgeklärte, herrschende Kultur oder Gesellschaft für ihre Herrschaft bezahlt: Die Entmenschlichung der Menschen, welche nur noch als statistische, handhabbare Größen gesellschaftsfähig scheinen.

» Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils. Das Programm der Aufklärung war die Entzauberung der Welt. Sie wollte die Mythen auflösen und Einbildung durch Wissen stürzen.« [2]

Aufklärung – so gesehen – erscheint als ein genuin europäisches Phänomen, welches allerdings einen fundamentalen Widerspruch in sich trägt: Einerseits soll ein aufgeklärter Mensch frei von Vorurteilen sein, andererseits soll er grundsätzlich keinerlei Autoritäten anerkennen. Das ebendies auch ein Vorurteil ist: Den Fetisch des eigenen, scheinbar selbständigen Denkens, einst gedacht als von aller Herrschaft und Autorität emanzipierend und gegen sie aufbegehrend, festzuhalten, erscheint als Dogma und ureigenstes Vorurteil aufklärerischen Denkens. –

Was bleibt, ist die Möglichkeit, Zeitalter und Projekt der Aufklärung historisch zu lesen und zu betrachten: Schließlich waren es Kampf und Aufbegehren gegen ungerechte Herrschaft seitens Kirche und Aristokratie, welche dem aufklärerischen Denken Kraft und Legitimation zu geben vermochten.

„Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die Menschen gemeinhin mit falschen Maßstäben messen, Macht, Erfolg und Reichtum für sich anstreben und bei anderen bewundern, die wahren Werte des Lebens aber unterschätzen.“ [3]

Der Mensch als Prothesengott

Einst erfand ein Mensch das Rad. Später traten Verbrennungsmotoren, Automobile, Eisenbahn und Flugzeuge hinzu. Dies alles schienen Errungenschaften, welche es den Menschen ermöglichten, räumliche Distanzen schneller und bequemer zu überwinden, als – per pedes – mit Sandale und Wanderstab. Technik konnte den Menschen helfen, Unbillen der Natur gerüstet entgegenzutreten, um es sich so in seiner menschlichen Welt bequem zu machen, und es sich gut gehen zu lassen.

„Der Mensch ist sozusagen eine Art Prothesengott geworden, recht großartig, wenn er alle seine Hilfsorgane anlegt, aber sie sind nicht mit ihm verwachsen und machen ihm gelegentlich noch viel zu schaffen. […] Ferne Zeiten werden neue, wahrscheinlich unvorstellbar große Fortschritte auf diesem Gebiete der Kultur mit sich bringen, die Gottähnlichkeit noch weiter steigern. Im Interesse unserer Untersuchung wollen wir aber auch nicht daran vergessen, daß der heutige Mensch sich in seiner Gottähnlichkeit nicht glücklich fühlt.“ [4]

Diese Hybris – als Selbstüberschätzung, Anmaßung einer Gottgleichheit, und eines Hochmutes – erkannte Sigmund Freud 1930 in seiner kulturkritschen Schrift „Das Unbehagen in der Kultur“. Eine Entfremdung – über den Begriff hatten wir schon nachgedacht – geht mit den technischen Fortschritten einher, ist unvermeidlich, scheint der Preis für Herrschaft des Menschen über die Natur.

Was beobachten wir heute?

Junge Menschen, die – fasziniert von und verführt durch neueste Technologien – den Anstrengungen enthoben sind, eine Landkarte mit Kompass zu lesen oder einen ausgedruckten Fahrplan an Bushaltestelle oder U-Bahn. Man kann das – kulturkonservativ – beklagen oder auch nicht, es gehört jedenfalls und einfach zu der modernen „Realität“ und „Welt“.

 

„Wer Wissenschaft und Kunst besitzt,

hat auch Religion;

wer jene beiden nicht besitzt,

der habe Religion!“ [5]

 

Wie weit soll es noch gehen, wohin führt der Weg? –

Eventuell zum Menschen hin, vielleicht ist dort ein Steg.

 

[1] Freud, S. 73

[2] Horkheimer / Adorno, S. 9

[3] Freud, S. 65

[4] Freud, S. 87

[5] J.W. Goethe, Zahme Xenien IX (Gedichte aus dem Nachlaß)

 

Weiterführende Informationen / Literaturhinweise

Freud, Sigmund. Abriß der Psychoanalyse. Das Unbehagen in der Kultur. Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main, Oktober 1953. (Vorliegende Ausgabe: 1972)

Gruen, Arno. Wider den Gehorsam. J. G. Gotta’sche Buchhandlung, Stuttgart: 2014.

Gruen, Arno. Verratene Liebe – falsche Götter. J. G. Gotta’sche Buchhandlung, Stuttgart 2003.

Honneth, Axel. Kampf um Anerkennung. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1129, Frankfurt am Main 1992.

Honneth, Axel. Pathologien der Vernunft. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1835, Frankfurt am Main 2007.

Horkheimer, Max / Adorno, Th. W. . Dialektik der Aufklärung.

Marquard, Odo. Skepsis und Zustimmung. Darin: Playdoyer für die Einsamkeitsfähigkeit. Reclam 9334. Stuttgart: Reclam 1994.

 

Berlin, im Juli 2018